Ein dieser Tage häufig, wenngleich meist nicht gern gesehener Gast ist die Angst. Sie sucht derzeit viele Menschen auf unterschiedliche Art und Weise heim und erhebt ihre Stimme noch lauter und öfter als gewöhnlich. netzwerk tirol konnte die Vielbeschäftigte dennoch für ein Interview gewinnen und befragte sie zu ihren umfassenden Aufgaben. Einige Antworten der Angst erstaunen.
Von Gabriela Stockklauser

Wie darf ich Sie ansprechen: Herr Angst, Frau Angst?
Einfach nur Angst, ich bin geschlechtsneutral, betreffe alle Menschen, wenn auch in unterschiedlichem Maß und in verschiedenen Ausprägungen. Ich bin bei der Geburt jedes Lebewesens quasi im Lieferumfang mit enthalten und begleite diese bis zu deren Tod.
Sie sind ein hartnäckiger Begleiter des Menschen und werden manchmal als richtig lästig empfunden …
… An dieser Stelle muss ich Sie unterbrechen. Ich gebe zu, meine Beharrlichkeit bereitet den Menschen mitunter wenig Freude. Oft ist das Gegenteil der Fall. Viele lehnen mich jedoch völlig zu Unrecht ab, denn in der Regel komme ich in guter Absicht. Meine Aufgabe ist es, Menschen zu schützen und ihr Überleben zu gewährleisten. Ich habe die Position als menschliches Grundgefühl im Bewusstsein angetreten, dass ich eine große und verantwortungsvolle Aufgabe zu erfüllen habe. Also nennen Sie mich bitte nicht lästig. Wenn jemand lästig ist, dann ist es der Homo sapiens. Dessen Übermut fordert mir oft Schwerstarbeit ab.
Jetzt übertreiben Sie! Wieso denn Schwerstarbeit? Wo liegt denn Ihre große Verantwortung genau?
Ohne mich wäre Ihre Spezies doch längst ausgestorben! Stellen Sie sich einmal vor, Ihre Urahnen hätten keine Angst vor dem Säbelzahntiger gehabt, hätten seelenruhig weiter Beeren gepflückt und ihm vielleicht sogar ins Gesicht gelacht. Ohne mich würde es Sie also gar nicht geben. Doch brauchen wir gar nicht so weit zurückzugehen, nicht einmal aus Tirol weggehen. Ihre Landsleute würden sich auf ihren Bergtouren regelmäßig zu weit hinauf- und hinausbegeben und zu hunderten abstürzen. Mit mir an ihrer Seite sind sie vorsichtig und ersparen sich vieles, vor allem Abstürze. Ich habe mir all meine ausgefeilten Mechanismen ja nicht umsonst ausgedacht, sondern um Sie und Ihresgleichen zu schützen. Und glauben Sie mir, Sie alle haben es bitter notwendig.
Von welchen Mechanismen sprechen Sie da genau?
Meine Güte, bei Ihnen muss ich ja ganz von vorne anfangen. Überlegen Sie einmal: wenn ich zu Ihnen komme, dann bringe ich zahlreiche Helfer mit, die Sie auf der physischen, psychischen und sogar auf hormoneller Ebene ausrüsten, damit Sie mit Bedrohungen umgehen können. Ich bin in der Lage, Sie in Sekundenschnelle in einen Flucht- oder Kampfmodus zu versetzen. Fight oder Flight wird das genannt.
Was passiert da genau?
Ihr Hör- und Sehvermögen nimmt zu, Ihre Pupillen weiten sich, womit sich Ihre Aufmerksamkeit vergrößert. Die Muskeln spannen sich an, Reaktionsgeschwindigkeit, Herzfrequenz und Blutdruck erhöhen sich, die Atmung wird flacher. Ich befehle sogar Ihrem ganzen Magen-Darmtrakt, dass er seine Tätigkeit vorübergehend einstellt, damit Sie Ihre gesamte Energie für das Wesentliche zur Verfügung haben.
Kein Wunder also, dass mir manchmal schlecht wird, wenn ich Angst habe.
Ich bin halt nichts für Hasenfüße! Ein bisschen Übelkeit, Schwitzen und Zittern müssen Sie schon in Kauf nehmen, wenn ich Ihnen zur Seite stehen soll.
Sie kommen aber nicht nur in Fight oder Flight-Situationen. Was hat es mit den zahlreichen Ängsten auf sich, die keine Lebensbedrohung darstellen?
Sie sprechen von den Angststörungen oder von den Panikattacken. Zugegeben, da agiere oder vielmehr reagiere ich oft ein wenig übereifrig. Das liegt jedoch nicht zuletzt am Lebensstil Ihrer Spezies, die mir oft keine Wahl lässt, als sie auch in Situationen heimzusuchen, die keine unmittelbare Gefahr darstellen. Dafür gibt es zahlreiche, meist recht individuelle Gründe. Neben körperlichen Ursachen und erblichen Belastungsfaktoren spielt die Erziehung, spielen vor allem überängstliche Eltern, eine Rolle.
Wie machen Eltern das?
Sie pflanzen ihren Sprösslingen mitunter eine quasi übertriebene Vorstellung von mir ein und stärken auf der anderen Seite deren Selbstbewusstsein zu wenig, da habe ich dann leichtes Spiel. Doch auch dieses übermäßige Perfektionsstreben, das derzeit so en vogue ist, erhöht den Angstpegel. Unendlich viele Menschen fürchten sich in überzogener Weise vor dem Scheitern. Dabei gehört das doch dazu, aber das bringt den Ihrigen schon lange keiner mehr bei.
Gibt es weitere Belastungsfaktoren?
Dauerstress, traumatische Erlebnisse oder ein Mangel an Lebenssinn machen es mir dieser Tage zusätzlich leicht, plötzlich in jene zu fahren, die gar nicht wirklich bedroht sind. Bei manchen führe ich auch eine Art Personal Coaching durch, begleite sie latent und dauerhaft durch ihren Alltag. Wenn ich gerade Zeit habe, dann treibe ich es gelegentlich so weit, dass die Menschen nicht erst Angst haben, wenn ich schon da bin, sondern eine Angst vor der Angst entwickeln. Da grabe ich mich dann tief ins neuronale System von Menschen ein und schlage bei geringsten Auslösern, manchmal auch ohne, Alarm.
In Ihrem Angesicht ist es also keine gute Idee, Entscheidungen zu treffen?
Richtig. Wenn ich akut vorbeischaue und recht heftig in jemandem poltere, dann entziehe ich nämlich auch dem Gehirn das nötige Blut. Denken ist dann eher Glücks- statt Vernunftsache. Das gilt auch und insbesondere für den Homo oeconomicus, der in der Regel ja sehr viel Wert auf rationales Denken legt.
Sie kennen die menschliche Spezies wirklich gut, sogar der Homo oeconomicus ist Ihnen ein Begriff?
Ja, selbstverständlich! Den Homo oeconomicus besuche ich besonders gern und regelmäßig, auch wenn er immer denkt, er könne ohne mich auskommen. Ich verrate Ihnen ein Geheimnis über diesen speziellen Gesellen: dieses wirtschaftswissenschaftlich geprägte Modell wird als nüchtern und emotionslos beschrieben. Es wird sogar behauptet, es sei allein von Kosten-Nutzen-Rechnungen und dem Streben nach Profitmaximierung gelenkt. Ganz rational also angeblich. Da kann ich nur lachen! De facto handelt niemand rational. Entscheidungen, zumal wirtschaftliche, sind stets auch emotional gesteuert. Von der Existenzgründung bis zur Betriebsübergabe. Es wimmelt nur so von Emotionen.
Manche Unternehmen schwören aber auch auf Sie. Oder anders gesagt: Die verkaufen sogar Sie?
Ganz richtig, damit sie ihre Finanzprodukte verkaufen können, um mich bei ihren Käufern dann wieder zu beseitigen. Das machen auch manche Politiker recht gut. Auch Erfolge von Extremisten beruhen meist auf meiner Teilhabe, wobei sie mich da eigentlich in Geiselhaft nehmen. Ich werde von denen auch nie gefragt.
Gibt es auch Einsatzorte, in denen Sie Ihre Kraft positiv entfalten?
Undifferenziert gesprochen erhöhe ich die Aufmerksamkeit und damit die Performance des Homo oeconomicus. Das trägt dazu bei, dass er nach hoher Qualität strebt, was immer er auch herstellt oder verkauft. Aber auch dazu, dass er etwa bei Investitionen oder Expansionen nicht zu unvorsichtig wird.
Können Sie das noch etwas näher ausführen?
Beispielsweise bei der Verlustangst. Seltsamerweise ist es gerade sie, die im ökonomischen Kontext auch den Mut zum Risiko triggern kann. Nach dem Motto: Wer nichts wagt, der nichts gewinnt.
Oder die Furcht vor dem Scheitern: In einem gewissen Umfang und Ausmaß kann sie eine Triebfeder sein, die zu Höchstleistungen anspornt. Lampenfieber versetzt Menschen in den nötigen Anspannungszustand, um fokussiert zu sein.
Da treten Sie dann quasi an seiner Seite auf als die gute, alte Freundin Angst?
Nicht nur, aber auch. Und aber auch mehr oder weniger konkrete Ängste diverser Couleur haben Menschen von Anbeginn an dazu motiviert, Erfindungen und Entdeckungen zu machen. Ob zum Schutz vor Gefahren, für mehr Sicherheit oder Bequemlichkeit. Ich verleihe den Menschen genau genommen eine enorme Portion an Selbstwirksamkeit. Weil ich sie antreibe, bleiben sie in Bewegung. Schaffen und machen und erarbeiten sich somit zumindest ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle. Also: ja, ich, die Angst, als Freund und Helfer!
Gefallen Sie sich in der Rolle?
Wer sich mir und damit dem Leben stellt, man könnte auch sagen, einen konstruktiven Umgangston mit mir gefunden hat, der hat das Gefühl, sein Leben unter Kontrolle zu haben. Der fühlt sich selbstwirksam, weil er der Angst, also mir, etwas entgegenzusetzen hat. Das wiederum ermöglicht Menschen, ein sinnvolles, lebendiges Leben in vermeintlicher Sicherheit zu führen.
Vermeintliche Sicherheit?
Leben ist nun einmal lebensgefährlich! Immer, überall und von Anfang an. Es lässt sich einfach nicht wegdiskutieren, dass der Tod die einzige Gewissheit im Leben ist. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass der stärkste meiner Persönlichkeitsanteile die Todesangst ist. Die ist bis zu einem gewissen Grad völlig berechtigt, zumindest verständlich, da keiner weiß, wann und wie er einmal sterben wird. Die wenigsten wollen früh sterben, die meisten irgendwie angenehm, aber alle gemeinsam haben sie eigentlich keine tatsächliche Kontrolle darüber.
Sie scheinen ein durchaus widersprüchlicher Zeitgenosse zu sein. Ein wenig von Ihnen soll mir nützlich sein, zu viel von Ihnen schadet mir?
Ja, so ist das mit den Gefühlen. Da stelle ich an sich überhaupt keine Ausnahme dar. Nur gibt es Gefühle, die Menschen ad hoc positiv bewerten, etwa Freude, Liebe und Überraschung. Und andere, die sie als negativ betrachten, wie Ekel, Neid oder meine Wenigkeit. Bei genauerer Betrachtung bringen wir aber alle Gutes wie Schlechtes mit und kommen stets mit einer sinnvollen Botschaft zu den Menschen. Sehen Sie, wenn es Sie vor verdorbenem Essen ekelt, mag das unangenehm sein, aber es bewahrt Sie im Zweifelsfall auch davor, sich zu vergiften.
Zum Abschluss: geben Sie unseren Lesern und mir bitte noch etwas Positives mit auf den Weg. Vielleicht etwas, damit Menschen in Zukunft etwas anders mit Ihnen umgehen oder sogar auf Sie zugehen können.
Ich bin eine bewegende Kraft. Ich rühre den Menschen an, damit er aktiv wird, handelt, etwas unternimmt für sein Glück. Dieses bewegende Moment wohnt ja bereits unserem Dachbegriff Emotion inne, was so viel bedeutet wie herausbewegen oder etwas in Gang bringen.
Und zu guter Letzt: Niemand muss sich schämen, wenn er zugibt, dass ich auch bei ihm ein- und ausgehe. Denn wer gut mit mir umgehen kann, mich auf dem einen oder anderen Gebiet sogar hinter sich lassen kann, der geht gestärkt aus der Begegnung mit mir hervor. Der kann vorausschauen, voranschreiten und nach einer Krise einen neuen Aufbruch wagen.