Sechs Schriftstellerinnen und Schriftsteller wurden dazu eingeladen, über Tirol, in Tirol, für Tirol, egal, für netzwerk tirol einen Text zu schreiben. Wir haben aus dem Lockdown gelernt und wollen mit dieser Literatur-Serie einen kurzen Moment der Ruhe und der Pause im Alltäglichen stiften.
Der erste Beitrag “Was wir erwartet haben” stammt von Andrea Stift-Laube.

Mein erster und letzter innerösterreichischer Flug war von Graz nach Innsbruck, und er fand der Liebe wegen statt und tut mir deswegen nicht leid, wenn ich auch merke, dass meine Scham darüber heute doch viel stärker ist als sie es damals war, und das ist auch gut so. Man kann nicht herumlaufen und grün tun, wenn man dann von Graz nach Innsbruck fliegt. Aber die Liebe. Es war mein, ich weiß nicht, drittes Mal dass ich in Innsbruck war? Ich bin dorthin schon im Gymnasium bei einer Klassenfahrt, so richtig mit dem Zug und damals hab ich schon gespürt, dass ich und Innsbruck, dass wir nicht warm werden. Da war das magersüchtige Mädchen in meiner Klasse, das alles abhaken wollte, abhaken musste, ihr einziger Auftrag war, auf keinen Fall nicht alles abgehakt habend nach Hause zurück zu kehren, ihre Eltern vielleicht Aufsteiger, ich weiß es nicht, sie haben ihr asiatischen Städtetourismus gelehrt und mitgegeben zu unserer schönen Fahrt nach Innsbruck. Die fand mit dem Zug statt und ich kann mich erinnern, dass ich mich beim Entdecken der Stiftgasse sehr gefreut habe und das goldene Dachl so enttäuschend fand, so klein, so wenig Fläche. Haben Sie erwartet, in diesem Text von Frauenbildern und Horizontalen zu lesen?
Ich war dann noch einmal in Innsbruck, ich glaube mit der katholischen Jugend, auch da (zur katholischen Jugend) bin ich wegen der Liebe hin und mitgefahren (nach Innsbruck) und ich weiß leider gar nichts mehr, nicht einmal ob es wirklich Innsbruck war oder nicht doch Salzburg. In Mayrhofen-Zillertal bin ich einmal gewesen, ich wage es kaum zu sagen, warum, Sie können sich es denken und es gab hohe Berge und ein schickes Seminarhotel, ich war verloren dort aber halt sehr verliebt. Und es gab diesen Friedhof, den wir auf dem Rückweg besuchten, den Friedhof in Kramsach, ohne Tote, dafür mit herrlichsten Inschriften des deutschsprachigen Alpenraums. Darf man das, einen Friedhof lustig finden? Aber natürlich darf man das, fragen Sie die Mexikaner. Der Friedhof soll nur ruhig zum Inbegriff der Lebensfreude werden, das wäre eine schöne Zweckgemäßheit, denn er ist ja auch nur für uns Lebende da.
Haben Sie erwartet, in diesem Text von widerwärtigen Ludern und abgesprengten Gipfeln zu lesen? Ich schon. Aber dann dachte ich mir, es muss doch auch schöne Seiten an Tirol geben, auch in Tirol gibt es die Liebe und dann fiel mir mein letzter eben retroaktiv mit Scham behafteter Flug dorthin ein. Wie schön es war, als wir am nächsten Morgen erwachten und aus dem Hotelzimmer nur den Nebel sahen, der Nebel, der die massiven Berge hinter Undurchdringlichkeit versteckte, als wären sie gar nicht da. Denn Hügellandbewohner so wie wir haben die Berge rund um Innsbruck nicht so gerne, das kann uns keiner vorwerfen, wenn wir uns da ein wenig eingeengt fühlen, mit so einem Berg im Fenster muss man aufwachsen, um ihn auszuhalten.
Ein einziges Mal war ich nicht der Liebe wegen in Tirol, da besuchte ich mit meinen Kindern eine andere Familie, das kleine Mädchen dort hatte eine sehr seltene Behinderung so wie mein kleiner Bub, und ich weiß noch wie adrett alles war. Es waren reiche Leute, aber selbst hätten sie das nie von sich behauptet, sie hätten fleißig gesagt, nicht reich. Sie lebten am Land. Es gab ganz viele Generationen und alle taten so als hätten sie kein Problem mit der Kondition des kleinen Mädchens. Nur in den Augenwinkeln, der strahlend jungen schlanken hübschen absolut perfekten Mutter sah man die Angst und die Erschöpfung, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Ob es denn schon einmal einen Fall in der Familie gegeben hätte, fragte ich sie, und sie antwortete sinngemäß, ja, aber der sei schon lange gestorben und niemand spräche mehr darüber. In die gute Landluft mit den Kühen auf der Alm, in den dickmäurigen Zubau mit den Katzenkindern rundherum, in diese ganze klassische tirolerische Schönheit passte etwas nicht, das hieß Behinderung. Das hat nun aber nichts mit Tirol zu tun, sagen Sie, und ich nicke. Natürlich nicht. Aber in jedem Zimmerchen ein Herrgottswinkel und trotzdem ein Problem haben mit der Andersartigkeit, das passt schon ins Tirolerische. Das weiß Felix Mitterer, das wusste vor ihm bereits Carl Techet, der ein wahnsinniges Buch veröffentlichte namens „Fern von Europa“, und das tat er bereits 1909. Man hatte ihn als Lehrer von Triest nach Kufstein beordert, wo er wie ein aufs Land versetzter Karl Kraus mit scharfgewetzter Zunge wütete und schrieb. Über das Katholische. Über den Dialekt. Über die Doppelmoral über Geldgier und Abtreibungen und all das tat er bereits 1909. Unter einem Pseudonym, er war ein mutiger Mann, doch lebensmüde war er nicht. Die Vorsicht war berechtigt, denn man enttarnte ihn bald, er wurde versetzt, Tiroler Zeitungen riefen dazu auf, ihn aus vaterländischer Pflicht heraus zu lynchen, er starb ganz jung und das ist schade, ich würde gerne mehr von ihm lesen und kenne nur dieses eine tollkühne Buch. Haben Sie erwartet in diesem Text über die Piefke-Saga zu lesen? Ich auch!
Wir saßen auf den Stufen, ich weiß nicht wo, es war spätnachts und lau, wir tranken Alkohol auf offener Straße und niemand störte unser Glück. Wir wanderten auf eine Alm, damals konnte man ihr noch nicht auf Facebook oder Instagram folgen, und stellten erstaunt fest, dass ganz Innsbruck, wir schlossen daraus ganz Tirol, immer auf irgendeine Alm geht oder zu irgendeinem Sport, der Bus war voll mit Tirolerinnen und Tirolern und die Tirolerinnen und Tiroler tragen Bergschuhe oder ihre Schi, immer und überall, auch in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Auf dem Weg hinauf wurden wir überholt von kräftigen Waden und fühlten uns unwohl, weil man uns unsere Unangepasstheit ansah. Ich glaube, ich hatte nur ganz normale Jeans an. Oben auf der Alm aßen wir grauen Käse mit Zwiebel in Essig und Öl, er roch nach Stall, und wieder unten im Tal betranken wir uns voller Freude, denn das hier war schließlich eine Stadt um uns herum, eine Hauptstadt, eine echte kleine Metropole in der sehr wohl auch andere Menschen herum liefen, die sich in Hautfarbe, Habitus, Kleidung oder sonst wie von der Sporttirolerin, vom Sporttiroler abhoben. Am nächsten Morgen zogen wir weiter.


Zur Person:
Andrea Stift-Laube wurde 1976 in der Südsteiermark geboren. Sie studierte Sprachwissenschaft und Germanistik, ist Leiterin der Literaturzeitschrift Lichtungen und lebt als Schriftstellerin und Publizistin in Graz. Sie schreibt für Tageszeitungen wie Der Standard, Wiener Zeitung, Die Presse und die Kleine Zeitung. Sie veröffentlichte mehrere Romane sowie Prosa, Lyrik und Essays, zuletzt „Die Stierin“ und „Schiff oder Schornstein“ (Kremayr & Scheriau 2017 und 2019). Zahlreiche Preise und Stipendien, u.a.: manuskripte-Förderungspreis, Theodor-Körner-Preis, Projektstipendium des Bundeskanzleramts Österreich, Rotahorn-Literaturpreis und Jubiläumsstipendium der Literar Mechana.