
Prolog.
Wer sich online über Reutte informieren möchte, findet auf Google 2.730.000 Ergebnisse in 0,54 Sekunden: die Homepage der Gemeinde, den Wikipedia-Eintrag und dann eigentlich nur noch alles Wichtige zwischen Wetter und Todesanzeigen. Was nicht auf der ersten Seite von Google zu finden war und jetzt auch nicht im ersten Satz dieser Reportage steht, die Gemeinde Reutte hat im Jahr 2018 um 1,4 Millionen Euro mehr eingenommen als ausgegeben. Das eine Sensation zu nennen, wäre reißerischer Journalismus. Dass das auf Seite 1 der Suchmaschine auftauchen sollte, wäre aber erwartbar.
Reutte ist eine der am schnellsten wachsenden Ortschaften des Landes. Kommunalrechtlich übrigens seit 1489 ein Markt und gemeinsam mit Tamsweg in Salzburg die einzigen beiden Standortgemeinden einer Bezirkshauptmannschaft, die nicht das Stadtrecht führen. Wieviele Menschen genau in Reutte leben, konnte bis Redaktionsschluss nicht eruiert werden, da Antworten von Verantwortlichen ausblieben, es sind aber mehr als 6.750, vermutlich. Ein Drittel davon hat ein anderes Geburtsland als Österreich. Von diesem Drittel aber sind nahezu die Hälfte aus Ländern der Europäischen Union. Die größte Community von außerhalb der EU stellen die Türken mit fast neun Prozent der Gesamtbevölkerung. Insgesamt kommen aus Drittländern 19 Prozent der in Reutte lebenden Menschen.

Auf diesem Spaziergang an einem ganz normalen Wochentag in Reutte wurden nur zufällige Stimmen aufgefangen. Einen Anspruch auf Repräsentativität gibt es nicht, weil nicht alle geantwortet haben, die gefragt wurden, und weil keine öffentlichen Repräsentanten auftreten. Dieser Spaziergang ist also nur: ein Schnappschuss.
Optiker.
Levi Gezzele ist in der dritten Generation Optiker in Reutte. Sein Vater führt momentan noch das Unternehmen, wird aber in den nächsten Jahren in Pension gehen. Levi hat unter anderem in München gelernt. Der Großteil seiner Schulkolleginnen und -kollegen lebt heute in Innsbruck. Wegziehen war für ihn aber nie eine Option. „Ich bin hier geboren und hier werde ich auch sterben.“ Das größte Problem ist für ihn der Verkehr. Am Wochenende sei man eingesperrt und unter der Woche würde es auch immer schlimmer. Er weiß zwar von mehreren Tunnelideen, „aber wer soll das bezahlen?“ Die Verantwortung für das zu große Verkehrsaufkommen sieht er nicht nur von außen kommend. „Die Probleme sind schon auch sehr stark hausgemacht. Der typische Reuttener fährt alles mit dem Auto. Von mir zum Untermarkt ist es schon zu weit, um zu Fuß zu gehen.“
Für die junge Generation, die zwischen Anfang 20 und Anfang 30, fehlt. laut Gezzele, in Reutte ein Ausgehangebot. „Entweder sind wir zu jung oder zu alt für die Lokale, die es gibt.“ Die Freunde trifft er im eigenen Garten, wo dann gegrillt und abends auch einmal ein Bier aufgemacht wird. Wer ihn so davon sprechen hört, bemerkt aber keinen wehmütigen Unterton über die Situation, sondern es ist erkennbar, dass er die Ruhe des kleinen großen Marktes schätzt. Weit genug weg und doch nah genug an nächstgelegenen großen Städten wie Innsbruck oder eben München. Anonym sein kann hier aber niemand. „Wenn ich einen Scheißdreck bau, dann weiß es morgen der ganze Ort.“ Deshalb reißen sich vielleicht alle auch manchmal ein bisschen mehr zusammen, weil die Nachbarschaftskontrolle noch funktioniert.
Neben der Plansee AG ist die Raiffeisenbank Reutte ein weiterer wichtiger Wirtschaftsfaktor von Reutte. 2017 betrug die Bilanzsumme 655 Millionen Euro, die Einlagen waren mit 502 Millionen Euro um 200 Millionen höher als die Ausleihungen.

Michlbauer Harmonikawelt.
Im April 2018 ist die Harmonikawelt von Höfen nach Reutte umgezogen. Das Gebäude, in dem sie sich heute befindet, war davor eine Disco. „Das Haus ist also der Musik treu geblieben. Ich glaube aber, dass die Nachbarschaft uns lieber mag“, erklärt Louis Priemer, Bereichsleiter bei Michlbauer und Harmonikalehrer der angeschlossenen Musikschule. Louis hat selbst als Jugendlicher Akkordeon (die mit den Tasten) gelernt und eigentlich wollte er gar nicht umsteigen auf die Steirische (die mit den Knöpfen). Seine Frau aber hat vor über zehn Jahren bei Michlbauer gearbeitet und ihm immer gesagt, dass er es doch einfach einmal ausprobieren solle. „Ich war aber lange skeptisch und hab mich geweigert.“ Als seine Frau dann eines Tages nicht zuhause war, hat er es dann doch heimlich versucht und war begeistert, denn „bei einer Harmonika eröffnet sich ein viel größerer Klang als bei einem Akkordeon. Das hat mich beeindruckt und eigentlich war ich von da an gleich ganz verliebt.“
Das Außerfern wird von Resttirol ein bisschen wie Sibirien behandelt. Dass es ein paar Grad kälter ist, stimmt, und dass die Menschen auch etwas anders sind, ist ebenfalls korrekt. „Der typische Außerferner ist zurückhaltend, unzugänglich, skeptisch. Aber wenn du ihn einmal zum Freund hast, dann bleibt er ein ganzes Leben.“
Reutte ist ein wunderbarer Ort, um gut zu leben, „aber ohne das Metallwerk wären wir hier ein Notstandsgebiet.“ Es gibt natürlich die traditionelle Landwirtschaft. Ein durchschnittlicher Betrieb besitzt in etwa 20 Stück Braunvieh. Viele Bauern stellen aber gerade um auf Schafe, weil die Milchwirtschaft nicht mehr so viel abwirft.

Der Verkehr, der ist halt so und sicher eine Herausforderung und wird wahrscheinlich auch etwas hochgeredet. Für Louis Priemer sind die Infrastrukturprobleme aber die gleichen, wie in allen Landregionen Österreichs. Er sieht die echte Herausforderung in der Gesundheits- und Medizinversorgung. „Es gibt in Reutte keinen Hautarzt mehr. Einen neuen Augenarzt gibt es ab jetzt, nach fünf Jahren, immerhin wieder im Bezirk.“ Mit 1. April eröffnete Dr. Andreas Till in Pflach eine Ordination, für die Ende März bereits fast 500 Anmeldungen eingegangen waren. Priemer kann sich nicht erklären, warum fast keine Ärzte hierher nach Reutte wollen, denn „es lebt sich doch gut bei uns und jedem Arzt würden die Menschen hier die Tür einrennen.“ Er selbst hat eine Hautkrankheit und müsste deshalb nach Landeck, Innsbruck oder ins nahe Deutschland fahren, wo die Krankenkasse aber nur 80 Prozent der Kosten erstattet.
Das Zusammenleben in der Gemeinde funktioniert in seinen Augen dafür gut. Es gibt zwar kein Kino mehr, aber in Füssen ist ja eines. Manchmal, vielleicht einmal im Monat hört er von einer Wirtshausschlägerei. „Aber naja, das war ja auch immer schon so, seit Generationen. Das war früher doch noch viel häufiger. Das ist doch kein Problem. Dann ist’s wenigstens erledigt, das Problem, was angestanden ist.“
Nur circa 19 Prozent der Reuttenerinnen und Reuttener haben ihre Schulbildung mit einer Matura oder höher abgeschlossen. Jeweils rund ein Drittel der Bevölkerung hat eine Lehre oder nur die Pflichtschule abgeschlossen.
Kebabstand.
An einem Kebabstand im Ortszentrum stehen zwei Kunden. Ein junger Mann und ein Mittedreißigjähriger holen sich ihr Mittagessen. Der Ältere ist in einem Nachbarort geboren, in Reutte in die Schule gegangen und wegen des Verkehrs nach Reutte gezogen, „und wegen meiner Frau, weil ich hab vorher in Graz Informatik studiert.“ Der Jüngere kommt aus Afghanistan und hat letztes Jahr die Pflichtschule abgeschlossen und macht jetzt eine Lehre als Einzelhandelskaufmann bei einem ortsansässigen Unternehmen. Er schätzt die Ruhe hier. Ein bisschen erinnert es ihn daran, wo er geboren wurde.

Der Informatiker will den Verkehr nicht als Problem bezeichnen. „Reutte lebt ja auch ganz gut davon. Das wäre doch scheinheilig, darüber zu schimpfen.“ Vielmehr sieht er ein Problem im Zusammenleben der unterschiedlichen Menschen. „Die wenigsten alten Reuttener kennen Türken oder Leute, die von woanders herkommen, aber sie schimpfen. Aber fragen Sie einmal jemanden, ob etwas passiert ist oder ob er jemanden kennt, dem etwas passiert ist. Nix ist passiert. Das wird uns alles nur eingeredet. Im Wirtshaus gibt es jedes Monat eine Schlägerei, aber Angst haben sie vor den Ausländern. Das ist doch deppad. Aber wenn das Angstgefühl einmal da ist, dann hast du ein Problem.“
Für beide ist Reutte, wie auch für Priemer, ein guter Ort, um zu leben. Der Informatiker sieht aber auch die Abwanderung der Jungen als Problem. „Von den 17, 18 Leuten, die wir bei der Matura waren, leben heute noch vier in Reutte. Scheinbar liebt man Reutte und kommt nicht weg, oder man hasst es und kommt nicht mehr zurück.“
Die Arbeitslosigkeit liegt im Bezirk Reutte bei etwas über vier Prozent, wobei der Anteil bei Frauen dreimal so hoch ist wie unter Männern. Insgesamt gibt es 13.703 Arbeitsplätze (7462 Männer, 6240 Frauen). Im Durchschnitt ist eine offene Stelle für 33 Tage ausgeschrieben, bis sie wieder besetzt wird.

Kunstwerksladen.
In einem kleinen Kunsthandwerksladen arbeitet eine gebürtige Reuttenerin. Sie hat allerdings einen Deutschen geheiratet und pendelt jetzt immer am Wochenende über die Grenze. Die beiden Kinder aus der ersten Ehe leben mit ihr in Reutte, wo sie zur Schule gehen und weswegen sie auch noch hier arbeitet. Die Kinder hätten sich schon einen Freundeskreis aufgebaut gehabt und wären also zu alt gewesen, um ganz umzuziehen. Überhaupt können ihre Kinder in Reutte genauso aufwachsen, wie sie es getan hat. „Wir feiern noch die gleichen Feste und den Markt gibt s immer noch. Ein, zwei Häuser wurden abgerissen und der Ort ist gewachsen. Aber ich muss nichts vermissen, was es in meiner Jugend gegeben hat. Es ist alles noch da. Es hat sich nicht viel verändert“, weiß sie zu erzählen. Zwar ist der Verkehr schon nervig, aber in ihrer Branche braucht es Touristen und der Ort lebt ja offensichtlich sehr gut davon. Vom Tourismus und vom Metallwerk. Alle scheinen hier vom Metallwerk zu reden, wenn sie über die Plansee Holding AG sprechen.
Nicht danach gefragt, ergänzt die Mittvierzigerin am Schluss noch: „Eines ist schon anders als früher. Es ist nicht mehr so sicher. Wenn meine Tochter dann bald anfangen wird, auszugehen, dann werde ich immer parat stehen und sie abholen. Wegen der Asylanten. Die Türken, die leben ja schon lange hier, aber die anderen.“ – „Ist denn etwas passiert?“ – „Nein.“ – „Kennen Sie jemanden, dem etwas passiert ist?“ – „Nein.“ – „Gibt es Probleme in der Schulkasse Ihrer Tochter?“ – „Nein. Kinder verstehen das ja nicht. Die merken ja so etwas nicht. Für die ist das ja normal. Die mögen sich untereinander.“ – „Warum haben Sie dann Sorgen?“ – „Naja, man liest das halt, überall.“
Nach Reutte pendeln insgesamt 2.390 Menschen für die Arbeit. 18 davon sogar aus einem anderen Bundesland. Aus Reutte raus sind es insgesamt 1.718. 117 davon nach Innsbruck und Umgebung, 66 nach Wien und 89 ins Ausland.

Fleischhauerei.
Auf mehrfachen Tipp wird die Fleischhauerei Kastner besucht. Heute soll es nicht nur den besten Fleischkäse von ganz Tirol geben. Heute soll es sogar einen weißen Fleischkäse geben. „Der ist wie Weißwürste. Nur noch besser, Fleischkäse.“ Um das angestrebte Ziel, den besten Fleischkäse von ganz Tirol zu finden, zu erreichen, wird trotzdem der weiße Fleischkäse gegessen. „Es darf ruhig ein bisschen mehr sein.“ Erkenntnis: In Reutte beim Kastner gibt es den besten weißen Fleischkäse von Tirol.
In Reutte gibt es etwa 2.700 Haushalte. Der Großteil mit etwas über 1.000 sind Haushalte mit einer Person, über 5 Personenhaushalte gibt es nur circa 180. Im Durchschnitt leben 2,1 Personen zusammen. Vor 18 Jahren waren es noch 2,4.
Bauernladen.
Der letzte Stopp ist der Bauernladen im Untermarkt. „Ja sicher macht ihr Fotos. Es ist immer gut, wenn bei uns fotografiert wird“, ruft die fröhlichste Reuttenerin des ganzen Tages. Gefragt werden sollen aber nur die Kunden, weil „wir sind hier wie Wirtsleute. Wir haben keine Meinung. Meinungen haben nur die Gäste.“ Augenzwinkern. Verstanden.

Die Pensionistin, die eigentlich aus Deutschland kommt, aber schon seit 1973 in Tirol lebt, mag die Umschlossenheit Reuttes durch die hohen Berge. „Es ist aber nicht für jeden etwas. Ich finde es aber heimelig.“ Am Bedauernswertesten ist für sie, dass im Zentrum etliche der alten Häuser abgerissen und durch Neubauten ersetzt wurden. Reutte wächst, um Gebäude und um Menschen. „Es sollte sich aber alles an den Ort anpassen und nicht umgekehrt. Die Architektur der Neubauten und die Mentalität der Zugezogenen. Am Dialekt ist das aber nicht messbar“, sagt sie mit einem kecken Lächeln und hessisch-tirolerischem Singsang.
Auf zwei Hockern an der Bar sitzen Vater und Tochter. Sie findet die Mottos beim Dorfmarkt schrecklich. Er den Verkehr. „Man kann überhaupt nicht mehr mit dem Auto fahren. Die Fremden versperren alles.“ – „Sie leben also in Reutte und sind herspaziert?“ – „Nein, wir leben im Nachbardorf und sind mit dem Auto hier. Wieso?“

Epilog.
Am Schluss gehen der Fotograf und ich noch durch die Marktgemeinde auf der Suche nach Fotomotiven. Es ist einer dieser Frühlingstage, an denen es endlich wieder warm genug ist, um draußen in der Sonne zu sitzen. Die Menschen wirken fröhlich. Jede und jeder für sich und irgendwie auch alle gemeinsam. Vor dem Hotel steht der Wirt, die Augen geschlossen hält er den Kopf der Sonne entgegen. Die Familie mit den drei Töchtern spaziert spielerisch über den Zebrastreifen. Kinderlachen. Verkehrsgeräusche. Irgendwo mäht ein Rasenmäher. Ein ganz normaler Tag. Ist das schon Idylle?
