Dass die Post in manchen Tiroler Orten nur alle zwei Tage kommt, ist keine Erscheinung des Heute. Schon Arthur Schnitzler schreibt vor 101 Jahren über Unregelmäßigkeiten. Das, aber auch wirklich Weltmeisterliches hat David Österle in der Literatur über Tirol gefunden.

Toni Sailer, Leonhard Stock, Ernst Hinterseer und Josef Stiegler, Christl Haas und Sigrid Wolf. Sie eint ihr Weltmeisterpokal auf dem angewärmten Kaminsims und die Tiroler Herkunft. Kein anderes Bundesland brachte mehr Weltmeister im Skisport hervor. Bis 1980 zählten Rennen bei den Olympischen Winterspielen auch als Alpine Weltmeisterschaften. Weltmeisterlich sind hier freilich nicht nur Skiläuferinnen und Skiläufer, sondern auch die Pisten. Würden die halsbrecherischsten Rennstrecken mit einer Medaille geehrt, nichts und niemand könnte der Streif, dem Höllenritt auf blankem Eis, Gold streitig machen.
Nach Kitzbühel verschlägt es auch den Münchner Autor Albert Ostermaier, zu jener Zeit im Jahr, in dem die Dorfbevölkerung traditionellerweise von 8.000 auf 18.000 Menschen anwächst. In seinem Roman Seine Zeit zu sterbenlässt er, während alle Welt am Fernseher gebannt auf Mausefalle, Steilhang und Hausbergkante schaut, einen Jungen spurlos verschwinden. Was ist passiert? Ein Unfall? Eine Entführung? Mord? Politik und Promi-Schickeria jedenfalls wollen von dem verschwundenen Halbwüchsigen nichts wissen. Der Kriminalfall stört lediglich die Party-Idylle. Nicht nur zwischen den Zeilen ist die Aversion des Autors gegen die Kitzbüheler Celebrity-Welt durchschaubar.
Die Voraussetzungen für den Plot sind gut. Ein bisschen was von Allem steckt da drin: Glamour und Glitzerwelt, reiche wie mafiöse Russen, Krimi und Thriller. Aber Ostermaier, seines Zeichens Kleist-Preisträger, ist Lyriker von Beruf, und das ist seinem kleinen Ausflug ins Prosageschäft leider anzumerken. So deckt er seine Sätze lawinenartig mit Ski- und Naturmetaphern zu, die auch dem Leser die Luft zum Atmen nehmen.
Stichwort: Rennen in Kitzbühel. Auch im Tourismus hat Tirol die Nase vorne. Österreichischer Weltmeister! 2018 gingen 33,1 Prozent der Übernachtungen auf das Konto der Tiroler Hotellerie. Und mehr noch, das Bundesland ist auch Wanderwegweltmeister. 24.000 Kilometer an markierten und von den Bergvereinen gewarteten Wanderwegen führen durch Tirol. Das entspricht viermal dem Weg von Innsbruck nach New York. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts, in der Zeit, als sich der Tourismus in Österreich zu entwickeln begann, zog es viele Wanderfreaks hierher. Auch Schriftsteller waren unter ihnen, die, wo sie doch schon mal hier waren, gleich über Land und Leute und über das Wesen des Fremdenverkehrs sinnierten. Wie etwa Arthur Schnitzler in seiner Tragikkomödie Das weite Land. Das Stück, an dem der Autor von 1908 bis 1909 arbeitete, stellte aufführungsgeschichtlich zu seiner Zeit sein erfolgreichstes Werk dar. Es wurde an neun deutschsprachigen Bühnen, so auch am Wiener Burgtheater, gleichzeitig uraufgeführt. Schnitzler befand sich auf dem Gipfel seines Erfolgs.

Das Drama, das in den Dolomiten angesiedelt ist, wendet sich dabei einmal mehr den Leib- und Magenthemen des Autors zu: Liebe und Liebesverrat, Verletzung der Ehe und Ehre. In Schnitzlers Visier: die großbürgerliche Wiener Gesellschaft, die moralisch schrittweise aus den Fugen gerät und sich im Südtiroler Rosengarten noch letzte Höhen- und Liebesräusche gönnt. Der Autor zeigt in seinem Stück dabei auch, dass der Fremdenverkehr, das Aufeinandertreffen von Ansässigen und Gästen, bereits in seinen Anfängen schnell zu einer menschlichen Belastungsprobe werden konnte. Der Hotelportier Rosenstock und der deutsche Tourist Serknitz tragen ihre gegenseitige Antipathie auf den Lippen, etwa wenn sich Letzterer nach der Zustellung der Post erkundigt:
ROSENSTOCK. Noch nicht, Herr von Serknitz. In einer halben Stunde etwa.
SERKNITZ. Zustände! Die Post ist doch längst heroben.
ROSENSTOCK. Aber bis sortiert wird, Herr von Serknitz.
SERKNITZ. Sortiert!! Setzen Sie mich da hinunter, ich sortier’ Ihnen den ganzen Einlauf in einer Viertelstunde. Wenn ich in meinem Bureau daheim so lange brauchte, um zu sortieren! – Das ist so die österreichische Schlamperei. Da klagt ihr dann über den schlechten Fremdenverkehr.
ROSENSTOCK. Wir klagen nicht, Herr von Serknitz. Wir sind überfüllt.
SERKNITZ. Ihr verdient die Gegend nicht, sag’ ich.
ROSENSTOCK. Aber wir haben Sie, Herr von Serknitz.
Die Piefke-Saga lässt grüßen, jener legendäre Vierteiler über den Unternehmer Karl Friedrich Sattmann und seine Familie, die in dem fiktiven Ort Lahnenberg im Zillertal Urlaub machen. Gedreht wurde übrigens in Mayrhofen, der vierte Teil auch in Alpbach. Der Fernsehfilm über die Hassliebe der Tiroler und den Gästen nördlich des Weißwurstäquators brachte den Tiroler Tourismusverband kurz gehörig ins Schwitzen und machte den Drehbuchschreiber Felix Mitterer zu einem gefeierten Mann.
Der Tiroler Felix Mitterer hatte heuer auch bei einem anderen weltmeisterlichen Kulturevent die Finger im Spiel. Er steuerte das Textbuch zu den diesjährigen Passionsspielen Erl bei, die seit 2013 als UNESCO Weltkulturerbe betrachtet werden,. Mehr als unweltmeisterlich, unrühmlich und unchristlich war die Leitung dieses renommierten Kulturevents seit 1998, das darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Erl jedenfalls ist der älteste Passionsspielort im deutschsprachigen Raum. Seit dem Mittelalter wird hier das geistliche Spiel um Leiden und Sterben Jesu von Nazareth aufgeführt, und das ausschließlich mit Laiendarstellern. Mehr als ein Drittel der Einwohner der 1.450-Seelen-Gemeinde steht auf der Bühne. Wenn die Haare der Männer im Dorf wieder länger werden, dann wissen alle, bald ist es wieder soweit.

Vom Mittelalter noch g‘schwind in die Gegenwart. Der aktuelle Tiroler Weltmeisterautor heißt Bernhard Aichner. Zumindest sagen das die Bestsellerlisten. Seine Totenfrau-Trilogie verkaufte sich in 16 Ländern. Allein im deutschsprachen Raum ganze 400.000 Mal. In den USA, einem Markt, der für österreichische Autorinnen und Autoren ungefähr so zugänglich ist wie Nordkorea für amerikanische Journalisten, soll sogar eine Verfilmung in Serienformat in Arbeit sein. Im Zentrum der Trilogie steht Brünhilde Blum, Mutter zweier Kinder, glückliche Ehefrau und als motorradfahrende Gelegenheitstrinkerin definitiv cooler als ihre Namensvetterin aus dem Nibelungenlied. Blum ist Bestatterin von Beruf, was ihren Schöpfer, Bernhard Aichner, sogar dazu veranlasst haben soll, ein halbes Jahr bei einem Bestattungsinstitut als Aushilfe zu arbeiten. Der Autor nimmt das mit der Recherchetätigkeit für seine Romane durchaus ernst. Blums Leben jedenfalls gerät außer Kontrolle, als ihr Mann, ein Polizist, bei einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht ums Leben kommt. Durch Zufall findet sie heraus, dass einige einflussreiche Personen hinter dem Tod ihres Mannes stehen. Das lässt Blum zur Serienkillerin werden. Wie kann eine dermaßen blutrünstige Frau gleichzeitig so sympathisch sein, fragen sich die Leserinnen und Leser bei der Lektüre dieses Romans. Der Autor lässt unser tradiertes Gut/Böse-Schema eine Runde mit der Achterbahn fahren, ähnlich wie Quentin Tarantino auf der Leinwand. Er wäre eigentlich auch der passendste Regisseur für Aichners Thriller-Serie.