Margarethe Hochleitner, Professorin für Gender Medizin/Diversitas, ist vieles: engagiert, beharrlich und nimmermüde im Kampf für mehr Geschlechtergerechtigkeit. Nur bequem ist sie nicht. Sie zeigt auf, wenn es um Postenbesetzungen an der Medizinischen Universität Innsbruck geht. Sie erhebt ihr Wort, wenn Menschen benachteiligt werden. Und sie hört denen zu, die sonst nirgendwo Gehör finden. Außerdem hat sie Gender Medizin zum Pflichtfach geadelt.
Von Gabriela Stockklauser

Es war die Frauenbewegung der 1960er Jahre, die den Blick auf die Frauengesundheit lenkte. Unter dem Motto „Mein Körper gehört mir“ gingen damals Frauen der westlichen Industrienationen auf die Straßen und Barrikaden, um für mehr Selbstbestimmungsrechte zu kämpfen. Zum einen für politische und rechtliche Verbesserungen, zum anderen und eng damit verbunden, um für die Autonomie über ihren eigenen Körper zu kämpfen. Es dauerte aber noch lange, bis zum Beispiel die Ungeheuerlichkeiten wie Vergewaltigung in der Ehe, die die österreichische Gesetzgebung erst 1989 unter Strafe stellte, ein rechtlicher Straftatbestand werden sollten. Der Kampf gegen den so genannten Abtreibungsparagraphen 218 (Anm. d. Red.: in Deutschland § 218) sorgte für breites mediales Aufsehen, Deutschland setzte ihn 1974 außer Kraft und stellte Schwangerschaftsabbrüche bis zur 12. Schwangerschaftswoche straffrei. Diese seither als Fristenlösung bekannte Regelung setzte die Regierung 1975 auch in Österreich um, hierzulande regelt Paragraph 97 die Straffreiheit einer Abtreibung bis zur 12. Woche einer Schwangerschaft. Was viele Frauen heute nicht wissen: durch einen einfachen Gesetzesbeschluss kann dieser Paragraph gestrichen, eine Abtreibung wieder unter Strafe gestellt werden.
Im Zuge dessen entdeckten Frauen fernöstliche Bewegungspraktiken wie etwa Yoga für sich und sie bekamen mehr Zugang zum und Gespür für ihre eigenen Körper. Vorkämpferinnen propagierten bislang tabuisierte Selbstuntersuchungen, etwa der Geschlechtsteile oder der Brüste, und entlarvten die bisherige Medizin als durch und durch patriarchales und auf Männer ausgerichtetes System.
Gender Medizin als Pflichtfach
Frauengesundheit war zuerst Thema von Aktivistinnen, geriet schließlich aber in den gesamtgesellschaftlichen Fokus. Mittlerweile ist die Gender Medizin an den meisten medizinischen Universitäten zum studienimmanenten Fach geworden, so auch an der Medizinischen Universität Innsbruck (MUI).
Dass das Fach an der MUI seit einigen Jahren verpflichtender Gegenstand in allen Studienabschnitten geworden ist, verdanken die Studierenden und alle Tiroler Frauen der Beharrlichkeit von Dr.in Margarethe Hochleitner. Sie ist nicht nur Professorin für Gender Medizin/Diversitas und Leiterin des Frauengesundheitszentrums der MUI, sondern auch Vorsitzende des Arbeitskreises für Gleichbehandlungsfragen, Leiterin der Koordinationsstelle für Gleichstellung, Frauenförderung und Geschlechterforschung und selbstverständlich Feministin. Professorin Hochleitner weist darauf hin, dass Gender Medizin keineswegs gleichzusetzen sei mit sogenannter Frauenmedizin, denn: „Gender bedeutet in der Medizin das Gleiche wie in den Sozialwissenschaften, meint also das soziale Geschlecht, im Gegensatz zum biologischen Geschlecht, das mit Englisch ‚sex´ bezeichnet wird.“ Kurz gesagt: während „sex“ biophysische Unterschiede hormoneller, chromosomaler und gonadaler (Anm. d. Red.: die Keimdrüsen, Gonaden betreffend) Natur zwischen Männern und Frauen meint, drückt das soziale Geschlecht „gender“ letztlich aus, welchem Geschlecht ein Mensch sich gesellschaftlich zugehörig fühlt.

Kein Standardmensch
Auf der physiologischen Ebene können Menschen in die zwei größten unterschiedlichen Forschungsgruppen eingeteilt werden: in Frau und Mann. Margarethe Hochleitner: „Um der Gender Medizin umfassend gerecht zu werden, musste man jedoch von Anfang an weit über diese beiden Gruppen hinausgehend Forschung betreiben. Heute wird das als „Diversity“ bezeichnet. Denn auch Alter, Ethnie, religiöse und sexuelle Orientierung und kulturelle Unterschiede, die Themen Flucht und Migration oder chronische Erkrankungen und Behinderung und vieles mehr spielen eine wichtige Rolle in der richtigen Behandlung. „Gender Medizin heißt für uns Mediziner nicht nur geschlechtergerechte Medizin, sondern weit mehr, nämlich individualisierte Medizin, von der Bevölkerung auch personalisierte Medizin genannt.“ Dies ist die Grundlage, maßgeschneiderte Medizinangebote für jede einzelne Person anzubieten, wie sie bisher nicht gemacht wurde – etwa bei der Krebstherapie.
Mehr als Frauen- und Männermedizin
Gender Medizin befasst sich mit den Unterschieden, die eine Medizin, die „von Männern für Männer geschaffen wurde“, wie Hochleitner sagt, jahrhundertelang außer Acht gelassen hat. Bislang sind medizinische Forschungen hauptsächlich an und demgemäß für weiße Männer zwischen 18 und 65 Jahren aus Industrieländern betrieben worden. „Diese Gruppe ist natürlich nicht repräsentativ für alle Menschen. So können manche Medikamente bei Frauen völlig anders wirken als bei Männern. Dosierungen, mitunter auch Wirkstoffe, müssen unterschiedlich bemessen werden. Auf schwarze Menschen wirken dieselben Medikamente mitunter wieder anders.“
Ein Grundproblem etwa ist, dass es nicht einmal einheitliche Kategorisierungsmaßstäbe dafür gebe, wer nun als Mensch mit nicht-weißer Hautfarbe gelte oder wie das überhaupt festzustellen sei. Hochleitner: „Bislang gilt die Selbsteinschätzung als Maßstab dafür, was natürlich wissenschaftlich nicht haltbar ist. Wenn jemand sagt, er sei afroamerikanischer Abstammung, Han-Chinesin oder Inuit, dann gilt dies. Und das kann zum Problem werden.“ Denn es fehlen bis heute verbindliche, allgemein anerkannte Maßstäbe. Der Weg zu einer Medizin auf breiter und mehr Menschengruppen repräsentierender Ebene liegt also noch in weiter Ferne. Aber immerhin: Frauen als von Männern unterschiedliche Gruppe werden seit einigen Jahren gesondert berücksichtigt.
Armut, Bildung und Gesundheit
Das medizinische System sollte an sich jedem gleich zugänglich sein. „Das ist in der Praxis aber keineswegs so. Der sozioökonomische Status von Menschen spielt eine wichtige Rolle, wie dem Armutsbericht jedes Jahr zu entnehmen ist. Ältere, von Armut betroffene Menschen, die keine gute Bildung oder Ausbildung genossen haben und das sind auch in Österreich zum Großteil Frauen, trifft es oft besonders hart“, sagt Margarethe Hochleitner, die immer wieder mit dieser Klientel konfrontiert ist. „Da kommen Frauen zu uns, die nicht mehr weiterwissen. Unsere erste Aufgabe ist dann zuzuhören. Sie wissen nicht, wo sie sich ihren Gesundheitszustand betreffend erkundigen und informieren können, haben oft keinen Zugang zu oder Ahnung vom Internet, haben nicht die Möglichkeit, sich eine zweite medizinische Meinung einzuholen. Hier von einem für alle gleichen oder gar gerechten System zu sprechen, halte ich für blanken Hohn.“ Es gehe bei Gender Medizin eben auch darum, Menschen zu ermutigen und denen eine Lobby zu verschaffen, die bislang keine haben.
Auf der rein medizinischen Ebene geht es darum, zu erforschen, warum Frauen in größerer Zahl zu diesen und Männer in größerer Zahl zu jenen Krankheiten neigen. Warum Männer und Frauen mit unterschiedlichen Symptomen etwa auf einen Herzinfarkt reagieren oder wie das Immunsystem mit den verschiedenen hormonellen Systemen der Geschlechter zusammenhängt und welche Auswirkungen diese Tatsache zeitigt. Das sind keine banalen Unterschiede. Weiß eine Frau beispielsweise nur über die Symptome eines Herzinfarktes, wie sie ein Mann erlebt, dann erkennt sie es möglicherweise nicht, wenn sie selbst einen Infarkt erleidet.
Nicht zuletzt geht es bei Gender Medizin auch um Zusammenhänge, die in einer weiblichen oder männlichen Sozialisation zu suchen und zu finden ist. „Das Gewichtsthema spielt schon bei Mädchen in jungen Jahren eine immense Rolle, während es bei Buben gar keine spielt. Die gesellschaftlichen Anforderungen an Frauen, möglichst dünn zu sein, um als schön zu gelten, hängt unmittelbar mit dem Rauchen zusammen. Mädchen beginnen oft früh zu rauchen, in der irrigen Annahme, sie könnten ihr Gewicht dadurch kontrollieren.“ Auch das ist Gender Medizin und noch Vieles mehr.
Feminismus
Seit es über Feminismus Literatur gibt, hat Margarethe Hochleitner so viel wie möglich davon gelesen. Sie begann bei den Amerikanerinnen und kam über die Deutschen zu den Französinnen: Simone de Beauvoir war Pflicht. Aus Solidarität abonniert sie bis heute noch die deutsche feministische Zeitschrift „Emma“.
Hochleitner ist Einzelkind, stammt aus einem Ärztehaushalt und hat selbst keine Kinder. Sie hat sich aktiv für eine wissenschaftliche Karriere entschieden und für eine als Vorkämpferin für mehr Geschlechtergerechtigkeit. „Ich habe viele Freundinnen, deren Kinder jetzt in einem Alter sind, in dem sie sie mir gerne ausleihen, auch zeitlich unbegrenzt.“ Humor hat die unkonventionelle Professorin mit den meist farbenfrohen Brillen. Manchmal ist es auch Galgenhumor. Den braucht sie auch, um den „männerdominierten Gremien der Innsbrucker Medizin das Leben ein bisschen schwer zu machen.“
An Ruhestand denkt die 70 Jährige noch nicht. Kann sie auch nicht, weil die Nachfolgefrage noch nicht ganz geklärt ist. Hochleitner vermisst heute oftmals engagierte junge Frauen. Vieles wird für selbstverständlich erachtet, was ihre Generation mühsam und beharrlich erkämpft hat. „Deshalb stelle ich in mancher Vorlesung die provokante Frage, was die Studierenden denn dafür täten, dass der Abtreibungsparagraph nicht einfach wieder abgeschafft würde. Die meisten wissen nicht einmal um die Geschichte des 96ers, geschweige denn, dass er von heute auf morgen aus dem Gesetz gestrichen werden kann. Ein Regierungswechsel und weg ist das Recht der straffreien Abtreibung für die Frauen in Österreich. Dieses Bewusstsein fehlt oft komplett.“

Mutterkult, Rosa und Hellblau
Die Frauenrechtlerin wundert sich nicht nur über fehlendes Wissen, sondern auch über den aktuell wahrnehmbaren Backlash in Sachen Mutterschaft: „Für viele junge, auch gut ausgebildete Frauen scheint es ja wieder die Erfüllung ihres Lebenstraumes geworden zu sein, daheim zu bleiben, Mutter zu sein und den Haushalt zu schupfen. Von den Vätern ist bei vielen keine Spur zu finden. Viele junge Frauen nehmen alte Rollenbilder ein und erziehen auch ihre Kinder wieder in Rosa und Hellblau. Die Väter werden nicht in die Pflicht genommen. Kinderbetreuungsplätze, auch wenn vorhanden, ausgeschlagen.“ Sichtbar sind diese Einstellungen auch auf Hochleitners eigener Uni. Vor einiger Zeit erarbeitete sie ein Wiedereinstiegsmodell für Jungmütter an der MUI, bei dem sie neben einer vollen Ersatzkraft für die Karenzzeit wenige Stunden die Woche weiterarbeiten können, um den Anschluss nicht zu verlieren und den Wiedereinstieg zu erleichtern. „Das hat viel Durchsetzungsvermögen, bürokratischen Aufwand und Geld gekostet, wurde aber nicht von allen angenommen. Vielfach haben die Frauen mit dem hohen sozialen Druck argumentiert, der auf ihnen laste, wenn sie das Wiedereinstiegsmodell wahrnehmen würden. Ja, bis heute hat die Bezeichnung Rabenmutter nichts von ihrer abwertenden Brisanz verloren. Diese Begrifflichkeiten sind nicht aus dem Sprachschatz verschwunden.“
Zukunft der Medizin ist weiblich
Was die weibliche Professorinnen-Riege an der MUI betrifft, liegt der Anteil derzeit bei rund 15 Prozent. „Wenn man bedenkt, dass wir von Null kommen, ist das schon okay. Aber freilich gebe ich mich damit nicht zufrieden. So lange die Quote keine ausgeglichene ist, beeinspruche ich alles, was nach männlicher Postenbesetzung riecht.“ Bis eine geschlechtergerechte Quote erreicht sei, gebe es bei einer Wahl nur eine Entscheidung: für die Frau.
Obwohl die Medizin in Mitteleuropa ein zutiefst patriarchales System ist, war das nicht immer so. Bereits im antiken Rom und Griechenland gab es Medizinerinnen. Diese bildeten allerdings, wie heute, eine Ausnahme und waren in der Regel sogenannte höhere Töchter. Später wurde die medizinische Arbeitsteilung in der Regel so gehandhabt, dass den Frauen die praktische Sphäre zugestanden wurde, während die universitäre weitestgehend Männern vorbehalten blieb. Hebammen, Lazarettschwestern im Krieg oder Kräuterweiblein, die im Mittelalter ob ihres großen und Männern furchteinflößenden Wissens sogar oft als Hexen verbrannt wurden, verkörpern das. Bis vor einigen Jahren war diese Struktur noch daran abzulesen, dass die klinische Pflege eine fast ausschließlich weibliche Domäne war, unter den Göttern in weiß kaum einmal eine Göttin zu finden war. Die Schwester und der Arzt. Diesem Prinzip folgte nicht nur die Bewertung der Arbeiten, sondern auch deren Entlohnung. Mittlerweile wurde zumindest die Berufsbezeichnung von der Schwester zur Krankenpflegerin gewechselt. Warum? Weil eben auch Männer diesen Beruf ergriffen haben.
In der Zukunft wird laut Hochleitner aber auch die universitäre Medizin weiblich dominiert sein. Schon heute sind an den deutschen Medizinunis bis zu 70 Prozent der Studierenden Frauen. In Innsbruck sei die Zahl nach Einführung von Aufnahmetests zwar wieder einigermaßen ausgeglichen, aber überregional gibt es mehr weibliche Medizinstudierende.
Weniger überzeugt ist Grete Hochleitner davon, dass das System Medizin als solches über Nacht geschlechtergerecht gemacht werden wird. „Der Aufwand, der zu betreiben ist, um eine Gender Medizin zu etablieren, die möglichst vielen Gruppen gerecht wird, ist sehr hoch und teuer und Menschen sehr unbequem. Überdies: freiwillig wird weder eine Forschungsgruppe, noch ein Pharmaunternehmen mehrere neue Parameter in ihre Studienkonzepte aufnehmen. Das muss politisch angeordnet werden.“
Immer wenn sie Krimis liest
Gegenwind ist Professorin Hochleitner aber immer schon gewohnt. Der macht ihr zum Glück wenig aus, vielmehr spornt er sie sogar noch an. Wenn es ihr doch zu viel wird, flieht sie in die Literatur. „Wenn´s ganz schlimm ist, müssen es Krimis sein. Es gibt Wochen, da stapeln sich die. Wenn´s nur mittel arg ist, dann gehen auch andere Bücher“, lacht Margarethe Hochleitner in ihrer Galgenhumor-Manier. Etwa 8.000 Bücher besitze sie, alle davon habe sie gelesen. Das spricht Bände für schlimme und mittel arge Zeiten.
Wenn sie Frauen etwas mitgeben könnte, dann wäre es dies: „Legt bitte endlich dieses Dogma ab, immer lieb und nett und bequem sein zu müssen. Vor allem im professionellen Bereich ist das kein Kriterium. Mit Kolleginnen muss man auskommen, fachlich gut zusammenarbeiten, respektvoll miteinander umgehen. Mögen muss man sich aber nicht unbedingt.“ Außerdem muss die Karriere genau geplant und organisiert werden, denn mit Teilzeit ist es unmöglich an den Männern vorbei an die Spitze zu kommen.