Worauf der Mensch verzichten kann wurde Vielen in der Krise rasch klar. Genau so, was er sehr wohl braucht, will oder künftig nicht mehr möchte. Solidarität, Empathie, Regionalität und Gemeinschaft stehen hoch im Kurs. Auch manch andere Veränderung ist zwar keine Kunst, kann aber dennoch bleiben. Weg kann, was oft schon vor der Krise überflüssig war, und endlich bemerkt wurde. Mit dem Mut zur Verzweiflung kann aus jeder Krise Potential gewonnen werden.
Von Gabriela Stockklauser

Keinesfalls kann jemand sagen, es fehle der Gesellschaft an Empathie, Solidarität oder altruistisch gesonnenem Handeln. Die Corona-Krise zeigt, dass in schwierigen Zeiten nicht das Schlechteste, sondern oft das Beste von uns Menschen sichtbar wird.
Empathie, Solidarität, Regionalität
Die angesagte Regionalität findet seit Beginn der sogenannten neuen Normalität tatsächlich vermehrt statt. Ab-Hof-Verkäufe, kleine Wochen- und Bauernmärkte oder die Plattformen „wirkaufenin.tirol“ und „osttirol-online“, die heimische Betriebe mit Onlinehandel auflistet, verzeichnen greifbare Zuwächse. Wenngleich nicht von allen im gleichen Maß wird auch die Arbeit via Homeoffice von vielen gut auf- und angenommen. Die Notwendigkeit mancher Dienstreise wurde ohnehin schon immer in Frage gestellt und jetzt offensichtlich. Die Absurdität von Inlandsflügen, zumal im kleinen Österreich, liegt mehr denn je auf der Hand. Ressourcen vernichtende Kreuzfahrten gehen den Wenigsten existenziell ab und auch sonst stellt der eine oder andere fest, dass er gar nicht alles braucht, was er vor Corona für unverzichtbar hielt.
Erfinder und Tüftler haben deshalb in Krisenzeiten Hochkonjunktur, denn Not macht bekanntlich erfinderisch. Gepaart mit einer Portion Flexibilität passten sich zahllose Unternehmen blitzschnell an die Erfordernisse der Krise an. Chemieunternehmen, Kosmetikhersteller und Schnapsbrennereien erzeugen Desinfektionsmittel, Textil- und Schneiderbetriebe nähen Schutzmasken. Industriebetriebe, aber auch Tiroler HTL-Schüler stellen via 3-D-Drucker Plexiglas-Visiere her. Der Mensch kann aus der Krise lernen, denn grundsätzlich ist er auf Überleben, auch das wirtschaftliche, programmiert.
Ich krieg die Krise … geschenkt
Zuerst einmal aber ist jede Krise ein Schlag ins Gesicht. Leidvoll und schmerzhaft. Die Phrase, dass jede Krise auch eine Chance ist, klingt am Beginn immer wie Hohn. Anfangs haben Menschen ein Gefühl des Kontrollverlusts, der Ohnmacht und der Verzweiflung. Doch, noch eine Phrase: Ein Leben ohne Krisen gibt es nicht. Und jeder von uns hat schon zig Krisen gemeistert. Nicht immer so große, aber auch das liegt ja bekanntlich im Auge des Betrachters.
Tatjana Schnell, Psychologin an der Universität Innsbruck mit Schwerpunkt in der existenziellen Psychologie, sagt: „Leid ist eine normale Reaktion. Wir alle erfahren schmerzhafte Situationen. Weichgezeichnete Hochglanzbilder in Social Media als Normalität darzustellen ist reine Fiktion, es ist unnormal keine Krisen zu durchlaufen.“ Das Zulassen von Schmerz stelle einen wichtigen Schritt dar, um diesen schließlich wieder loslassen zu können. Und dann: „Neue Erkenntnisse können es möglich machen, dass Menschen im Anschluss an akut schwierige Situationen wieder frische und stabilere Fundamente aufbauen.“

Die Wendung zum Guten
Die gute Nachricht: Krisen sind zeitlich begrenzt. Ihre anfängliche Kraft, Menschen aus der Bahn zu werfen, hält in der Regel nur kurz an. Die schlechte Nachricht: Wie lange jemand für die Bewältigung braucht, ist individuell. Exakte Fahrzeiten und standardisierte Routenpläne aus der Krise heraus gibt es keine.
Allgemein sind Krisen oft der optimale Zeitpunkt dafür, Verhaltensweisen zu ändern, verkrustete Strukturen aufzubrechen, Altes zu entsorgen und Neues, Sinnvolleres an dessen Stelle zu setzen. Die Chinesen wussten es anscheinend schon lange vor Wuhan: Ihr Schriftzeichen für Krise bedeutet zugleich auch Chance.
Mut zur Verzweiflung
Menschen haben eine erstaunliche psychische Widerstandskraft, so Tatjana Schnell: „Man bezeichnet das als Resilienz. Der Theologe Paul Tillich hat dies als Mut zur Verzweiflung bezeichnet. Menschen, die prinzipiell einen Sinn in ihrem Leben sehen, fällt es in der Regel leichter, weil ihr existenzielles Fundament stabiler ist.“
Dennoch hat das Zusammenspiel von mächtigen Bildern, katastrophalen Nachrichten, sich widersprechenden Informationen und jeder Menge Nicht-Wissen in den letzten Wochen das kollektive Angstniveau und die Verzweiflung Vieler verstärkt. Verständlich. Gab es doch so ein weltweites Tempo für einen Shutdown von Wirtschaft und öffentlichem Leben noch nie zuvor und deshalb auch keine Vorlage.
Doch wurden schon vor den coronabedingten Ereignissen vielerorts Stimmen laut, dass es „so“ nicht mehr weitergehen könne. Entschleunigen müsse sich der Mensch. Wieder mehr zu sich kommen. Verantwortungsvoller mit den Ressourcen der Erde umgehen. Weniger fliegen. Mehr Gemüse statt Fleisch essen. Sozial nachhaltiger einkaufen. Und so weiter.
In jeder Krise geht ein Fenster auf
Seit einigen Wochen haben wir all das: von der Entschleunigung über eine Drosselung oder den Stillstand des wirtschaftlichen Getriebes bis hin zur Möglichkeit der Selbstbesinnung. Flugzeugfreie Himmel. Smogreine Großstädte. Sogar das Klima und die Natur sind zur Ruhe gekommen und erholen sich. Bloß recht ist es „so“ freilich auch wieder nicht allen.
Wenn aber die Alte Normalität nicht mehr gewünscht und die Neue auch nicht erfüllend ist, wie soll dann eine Zukünftige Normalität aussehen?
Als größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts bezeichnet der deutsche Pop-Philosoph Richard David Precht unser Jetzt. Wie soll der Ausstieg aus der Wachstumsspirale und der Wechsel zu einer sozialen und nachhaltigen Wirtschaftsform gelingen und wie soll die überhaupt aussehen? „Wir müssen die Umwelt endlich ernst nehmen“, so Precht. „Wir dürfen die Erde nicht als reine Ressource begreifen. Corona ist ein Warnschuss, der uns sagen will, dass der Mensch nicht über der Natur steht, sondern ein Teil von ihr ist.“
Es bietet sich die tatsächliche Chance, aus dem egoistischen Hamstern von materiellen Gütern und Erfolgen auszusteigen, egal ob kurzfristig nach Klopapier oder langfristig kapitalismusimmanent nach Profit- und Wohlstandsmaximierung. Wer die Mühe auf sich nimmt, moralgeleitet zu überlegen und zu reflektieren, dass bisherige neoliberale Prinzipien nur auf Kosten anderer zum Erfolg führten, und sich bewusst dagegen entscheidet, kann eine Wende schaffen. Für sich und die Welt.

Erste Anstöße gibt es bereits:
- kurzfristige Prinzipien und Ziele der Ökonomie müssen abgeschafft, etwa Quartalsberichte gestrichen werden.
- Finanzmarktspekulationen gehört der Riegel vorgeschoben, damit Spekulationsgelder zurück in die Realwirtschaft fließen könnten.
- Der Onlinehandel muss besteuert werden. Manche plädieren gar für 25 Prozent.
- Kleine, oft inhabergeführte Betriebe, die in punkto Diversität und für den Erhalt der urbanen Kultur, Stichwort leere Innenstädte, von enormer Bedeutung sind, gehören abgesichert und gefördert.
- Vor allem die Klein- und Mittelbetriebe, die größten Steuerzahler für die Einzelstaaten, müssen im Vergleich zu steuerhinterziehenden Großkonzernen bessergestellt werden.
- Einmalboni für Gesundheitsberufe sowie für alle anderen niedrig entlohnten Systemerhalter müssen langfristig bessere, adäquate Bezahlungen folgen.