Kein Mensch muss sich Gewalt gefallen lassen. Nicht verbale, nicht emotionale, nicht körperliche und nicht strukturelle Gewalt. 1.200 Menschen suchten 2017 im Tiroler Gewaltschutzzentrum Beratung und Hilfe. Tendenz steigend. Über 80 Prozent der Opfer sind Frauen aller Schichten, aller Einkommensklassen und Berufe. Die meisten Übergriffe „passieren“ in den eigenen vier Wänden. Eva Pawlata ist Geschäftsführerin des Gewaltschutzzentrums Tirol und rät den Betroffenen: „Währet den Anfängen!“
Von Gabriela Stockklauser

„Du hast einen ganz schön fetten Arsch gekriegt!“, sagt er zu ihr. „Er“ zu „ihr“, weil der Großteil der Täter Männer, 88 Prozent im Jahr 2017, die meisten Opfer häuslicher Gewalt nach wie vor Frauen, 83 Prozent, sind. Er hätte ihr gar nicht sagen müssen, dass sie fett geworden ist. Sein Blick, das abschätzige Rollen mit den Augen, als er ihren Hintern taxiert wie ein Stück Rindfleisch beim Metzger, hätten gereicht. Gewalt beginnt klein. Eine Spitze hier, ein Tadel da, ein verletzendes Wort dort. Hier ein wenig Kontrolle, ein kurzer Blick ins Handy der Partnerin, dort ein winziges Verbot, die eine oder andere Eifersuchtsszene und irgendwann der erste „klitzekleine“ Ausraster: „Du hast doch um die Ohrfeige gebettelt!“.
Nein, niemand bettelt um Ohrfeigen, um Prügel oder um eine Vergewaltigung. Keiner sehnt sich nach Abwertungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen. Nicht in Blicken, nicht in Worten, nicht in Taten, nicht in Form vorgegebener gesellschaftlicher Strukturen, die manche bevorzugen und viele benachteiligen.
Frauenmorde als Anlass für Beratungen
„An Gewalt, in welcher Form auch immer, gewöhnen sich Menschen nie“, sagt Eva Pawlata, Geschäftsführerin des Tiroler Gewaltschutzzentrums mit Sitz in der Innsbrucker Marie-Theresien-Straße 42a. Gott sei Dank! Denn Gewalt ist nichts, an das ein Mensch sich gewöhnen sollte. Gewalt ist nie normal, Gewalt erzeugt immer Schmerzen.
Im Tiroler Gewaltschutzzentrum suchten 2017 insgesamt 986 Frauen und 214 Männer Hilfe. Als Opfer familiärer Gewalt oder von Stalking haben sie die Beratung und Hilfe der Anlaufstelle gesucht. Nicht vergessen werden dürfen die involvierten Kinder, die in jedem Fall zumindest indirekt mitbetroffen sind: 727 Kinder lebten 2017 in den Haushalten der 1.200 Hilfesuchenden. Auch sie waren damit den mittelbaren Gewalterfahrungen ihrer unmittelbaren Umwelt ausgesetzt. 111 dieser Kinder und Jugendlichen waren 2017 selbst Opfer.
Österreichweit wendeten sich 2017 etwa 18.860 Menschen an die Gewaltschutzzentren. Die Täter waren fast ausschließlich Männer im engsten familiären Umfeld. Und die Zahl der von Gewalt Betroffenen steigt seit Jahren konstant. Gleichzeitig haben aber auch immer mehr Menschen den Mut, sich bei Gewalterfahrungen Hilfe zu suchen. Geht es um an die Öffentlichkeit getragene Fälle, etwa polizeiliche Anzeigen oder das Aufsuchen eines Beratungs- oder Hilfsangebots, sprechen Experten von der so genannten Hellziffer. Dem gegenüber steht die Dunkelziffer, jene Menschen, die mit ihren Erfahrungen im Verborgenen bleiben. Die Dunkelziffer der Menschen, die Gewalt ausgesetzt sind, ist um ein Vielfaches höher als die Hellziffer.
Es seien die zahlreichen medial publik gewordenen Frauenmorde, die 2019 die Anzahl der Hilfesuchenden immer wieder anschwellen gelassen haben, sagt Eva Pawlata. „Auch nach dem Fünffachmord von Kitzbühel haben sich viele Menschen von uns beraten lassen. Die Aufmerksamkeit für Gewalt wird bei solchen Anlassfällen größer. Betroffene nutzen die Gelegenheit, sich doch einmal Hilfe zu suchen.“ Auch weil sie Angst haben, die „alltägliche Gewalt“ könnte einmal so ausarten, wie beim mutmaßlichen Kitzbüheler Mörder.
Hemmschwelle zu gehen trotz Gewalt groß
Dass Frauen öfter der Gewalt durch Männer ausgesetzt sind, als umgekehrt, hat viele Faktoren. Der markanteste ist wohl, dass Männer in der Regel körperlich stärker sind als Frauen und in ihrer Erziehung vorgelebt wurde, dass sie sich ihrer körperlichen Kraft auch bedienen dürfen oder sogar sollen. Dass unsere Gesellschaft nach wie vor stark patriarchale Strukturen aufweist, das heißt, dass Männer höhere Positionen bekleiden, mehr verdienen, größeres Ansehen genießen, schlicht die Entscheider sind, kann als allgemeinere „Rechtfertigung“ der Gewaltanwendung angeführt werden.
Jede fünfte Frau war 2018 in Österreich statistisch von Gewalt durch den eigenen Partner oder durch ein Familienmitglied betroffen. Und das ist nur die Hellziffer. „So genannte Gefährder sind in der Regel im engsten Umfeld zu finden. Das Zuhause, das eigentlich ein Raum des Rückzugs, der Sicherheit und der Geborgenheit sein soll, ist für viele Menschen ein Ort, an dem sie der Gewalt ausgesetzt sind“, sagt Eva Pawlata. Genau das mache es den Betroffenen oft so schwer, der Gewalt zu entkommen. „Der Gewalttäter hat ja auch andere, gute Seiten. Man hat sich einmal ineinander verliebt, hatte schöne Zeiten, hat vielleicht gemeinsame Kinder und sich ein gemeinsames Heim geschaffen. Da ist die Hemmschwelle zu gehen oft riesig. Immer noch gibt es auch Frauen, die finanziell von ihrem Partner abhängig sind, das stellt eine weitere Hürde dar.“
Angst vor dem Umbringen
In der Regel wenden sich die Betroffenen erst an das Gewaltschutzzentrum, wenn der Leidensdruck übergroß ist oder aber aus Angst vor unkontrolliertem Aggressionspotenzial. „Zum anderen meldet uns die Polizei, wenn eine Anzeige wegen Gewalt erfolgt. In dem Fall wird in der Regel ein Betretungsverbot ausgesprochen, das Kernstück des österreichischen Gewaltschutzgesetzes ist“, erklärt Pawlata. Betretungsverbote können jedoch auch unabhängig von Anzeigen und strafbaren Handlungen ausgesprochen werden. Österreichweit wurden 2017 durchschnittlich 9,1 Betretungsverbote pro 10.000 Einwohner ausgesprochen. Nach einer polizeilichen Meldung nimmt eine der Mitarbeiterinnen des Gewaltschutzzentrums, Psychologinnen und Juristinnen, Kontakt mit dem Opfer auf und bietet Beratung und Hilfe an. „Wir können aber nur dann aktiv werden, wenn die, in der Regel, Frau damit einverstanden ist, wenn das Kindeswohl gefährdet ist oder wenn eindeutig Suizidalität vorliegt. In jedem Fall sind wir zu Vertraulichkeit verpflichtet“, sagt die Geschäftsführerin. Wenn Kinder von Gewalt betroffen sind und niemand im Umfeld sie schützen kann, wenden sich die Mitarbeiterinnen des Gewaltschutzzentrums an die Kinder- und Jugendhilfe. Bei Selbstmordankündigungen werden Polizei und Rettung verständigt.
Ist die Frau bereit, etwas an ihrer Situation zu ändern und den Weg aus einer gewaltsamen Beziehung zu gehen, beraten die Mitarbeiterinnen in gesundheitlichen, psychosozialen und juristischen Themen. In Akutfällen werden Frauen, und auch Kinder, ins Frauenhaus gebracht. Manchmal ist es notwendig mit der Psychiatrie Kontakt aufzunehmen, dann begleitet eine Mitarbeiterin des Gewaltschutzzentrums die Frau, wenn sie das wünscht. Viele Frauen haben durch lange Gewalterfahrungen psychische Folgeerkrankungen entwickelt: Depressionen, Ängste, totale soziale Isolation oder posttraumatische Belastungszustände sind die häufigsten. Körperliche Narben verheilen oft weitaus rascher als emotionale.
Psychische Erkrankungen können einerseits die Folge sein, oft aber geht ihnen auch psychische Gewalt voraus. 2011 zeigte eine Studie auf, dass 44,6 Prozent der Frauen mit Gewalterfahrung von psychischer Gewalt betroffen sind. Ein Schlag, ein Tritt verletzt und verunsichert, aber auch eine Gewaltandrohung der Frau oder den Kindern gegenüber, ein Verbot, auszugehen oder zu arbeiten, ist Gewalt.

Einfache Erklärungen für komplexe Phänomene
Viele Opfer haben schon als Kinder Gewalt in der Familie erlebt und geraten später wieder an einen schlagenden Partner. So, als gäbe es Muster, nach denen man sich verhält, weil man die Situationen nicht anders kennt. Eva Pawlata: „Es gibt tragischerweise Frauen, die wir schon seit Jahren begleiten und die immer wieder an gewalttätige Männer geraten. Manche Frauen kennen es nicht anders, was jedoch nichts rechtfertigt! Es zeigt vielmehr gesellschaftliche Strukturen auf, denen zufolge es mancherorts noch als `normal´ zu gelten scheint, dass eine Frau sich Gewalt gefallen lassen muss.“ Daher bedürfe es immer noch der Aufklärung, dass eine Frau dem Mann weder untertan ist, noch ihm gehört, noch von wem auch immer zur Ware degradiert werden dürfe. Es bedürfe der Stärkung des Selbstwertes von Frauen generell und der Bereinigung so mancher gesellschaftlicher Struktur. So lange Frauen immer noch weniger verdienen, als „minderwertiger“ eingestufte Jobs verrichten, den Großteil der Hausarbeit, der Kinderbetreuung und der Pflege von Angehörigen verrichten müssen und dadurch oft doppelt oder dreifach belastet sind, können sich Männer und Frauen nicht auf Augenhöhe begegnen.
Quote, Gender-Mainstreaming, Diversity und Empowerment
Für Pawlata ist klar, dass viele Menschen den Zusammenhang zwischen den patriarchalen Strukturen und dem Ausüben von Gewalt durch Männer nicht sehen. Gerade deshalb aber muss es zu einer gesellschaftlichen Gleichwertigkeit kommen. Die Politik müsse diesbezüglich Geld in die Hand nehmen, um Veränderungen herbeizuführen. Egal, ob es sich um die oft belächelte Quotenregelung, um Gender-Mainstreaming oder Diversity-Programme handelt. „So lange wir keine ausgeglichenen Zahlen haben, was Frauen in Spitzenpositionen betrifft, solange Frauen für die gleiche Arbeit immer noch weniger Geld bekommen und das Gros der Reproduktionsarbeit leisten, sind diese Maßnahmen nicht nur gerechtfertigt, sondern notwendig.“ Gleichzeitig nimmt sie auch das eigene Geschlecht nicht aus der Verantwortung: „Es geht bei der Erziehung der eigenen Kinder los. Eltern müssen aufhören, ihre Buben zu Machos zu erziehen oder Mädchen und Buben unterschiedliche Tätigkeiten zuzuweisen. Jungs sollten etwa selbstverständlich genauso im Haushalt helfen wie Mädchen und Mädchen genauso mit Technik vertraut gemacht werden wie die Burschen.“
All das sind Bausteine für ein selbstbestimmtes Leben. Denn Frauen mit entsprechendem Selbstvertrauen, die erlebt haben, dass sie wertvoll sind, wehren sich viel eher. Deshalb sind Gewaltschutzzentren, Frauenhäuser oder eben ein Betretungsverbot nicht die Lösung, sondern lediglich Symptom dieser gesellschaftlich tolerierten Verbrechen. Ein Wertewandel muss her. Frauen müssen lernen, Stopp und Nein zu sagen. Und Männer müssen lernen, das zu akzeptieren.
Spirale der Gewalt
Nur wer sich seiner eigenen Grenzen bewusst ist, kann wahrnehmen, wann sie übertreten werden. Denn Gewalt beginnt oft klein und scheinbar harmlos und steigert sich dann. Manchmal bis zu Bluttaten wie der in Kitzbühel. Der falsche gesellschaftliche Umgang zeigte sich hier erneut wieder. Rasch waren sich viele „sicher“, dass es sich um eine „Eifersuchtstat“ gehandelt haben muss. Eva Pawlata sieht das aber anders: „Erstens wirkt das Wort Eifersuchtstat beschönigend und fast wie eine Rechtfertigung. Es handelt sich um Mord. Punkt. Und: es ist so gut wie nie nur ein Faktor, der zu so einer Tat führt. Eifersucht erleben viele Menschen, ohne, dass sie zu Mördern werden.“
Das Gewaltpotential eines Menschen setzt sich aus vielen Mosaiksteinen zusammen. Oft reicht dann der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Weil eine kognitive Erklärung für den Ausbruch der Gewalt beim Verbrecher aber kompliziert ist, wird das Warum schnell mit seiner Eifersucht begründet. Die Frau trifft so sogar noch Mitschuld an ihrer Ermordung.
Schuldumkehr: Blame the victim
Doch die Menschen, die Gewalt erfahren, sind nie Schuld daran, auch nicht mit Schuld. Eva Pawlata: „Victim Blaming, die Schuldumkehr, die den Opfern die Verantwortung für das Ausrasten der Täter gibt, ist ein häufiges Muster. Nicht nur Täter selbst drehen die Tatsachen oft um. Auch gesamtgesellschaftlich erlebt man das all zu oft.“ Denn Menschen tendieren zum Schubladisieren. Hinzu kommt, dass in jedem Menschen zugleich potenzieller Täter und mögliches Opfer steckt, was tabuisiert wird. Es ist einfacher der neunjährigen Natascha Kampusch eine Mitschuld für ihre damalige Entführung zuzuschreiben, als sich mit eigenen „bösen Anteilen“ auseinanderzusetzen. Der Gesellschaft würde das im Allgemeinen aber guttun. Stattdessen bleiben wir dabei. Die Erklärung ist ihr „sexy Outfit“, ihre „kecker Blick“ oder dass sie das Nein ja nicht ernst meinte.