Dominik Matt ist Inhaber des Lehrstuhls für Produktionssysteme und -technologien und leitet den Forschungsbereich Industrial Engineering und Automation an der Freien Universität Bozen. Darüber hinaus ist Prof. Matt Leiter des Forschungsinstituts Fraunhofer Italia in Bozen. Mit netzwerk tirol hat er unter anderem über die Zukunft der Baubranche gesprochen, die sich durch die Digitalisierung ergeben werden.
Von Maximilian Brustbauer

Was ist die Bauindustrie 4.0?
Seit vielen Jahrzehnten beobachten wir, wie sich die Schere der Produktivitätsentwicklung zwischen Bau und Industrie immer weiter öffnet. Neue digitale Technologien bieten aber gerade der Bauindustrie ein enormes Effizienzsteigerungspotential. Aktuelle Studien sprechen von 40 bis 50 Prozent. Aber auch im Bereich der Nachhaltigkeit, was in Zeiten des Klimawandels immer wichtiger wird, muss umgedacht werden und kann die Digitalisierung, und insbesondere die künstliche Intelligenz die Bauwirtschaft enorm unterstützen. Und zwar über alle Phasen des Bauens. Architekten können beispielsweise alternative, nachhaltige Entwürfe leichter erstellen und analysieren, ohne zwingend Experten für Energieeffizienz oder Lebenszyklusanalyse zu sein; ein auf Building-Information-Modeling-Daten basierender KI-Algorithmus wirkt hier unterstützend. Aber auch für die Phase der Bauausführung öffnen sich neue Horizonte. Kollaborative Roboter können zum Beispiel die Gesundheits- und Sicherheitsbedingungen von Bauarbeitern verbessern. In der Nutzungsphase können Gebäude schließlich durch vorausschauende Wartung länger in optimalen Bedingungen, was Energie, Komfort, Gesundheit, Feuchtigkeit et cetera betrifft, gehalten werden. Und auch die Phase des Rückbaus bietet Chancen: Beim Abbruch kann die Recyclingquote verbessert werden, indem man die Zusammensetzung der verschiedenen Baustoffe kennt und Roboter die Schmutzarbeit übernehmen lässt.
Welche Berufe sollen um welche Kompetenzen erweitert werden?
Die digitale Transformation wird sich auf praktisch alle Berufsgruppen im Bau auswirken. Da künftig alle am Bau Beteiligten über eine gemeinsame Datenplattform vernetzt sein werden, greifen sie zeitgleich auf denselben Informationsstand zu und Änderungen werden für alle Beteiligten sofort sichtbar.
Was ist der Nutzen für die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber durch eine Digitalisierung?
Eine fundiertere Entscheidungsfindung, eine bessere Abstimmung der Aktivitäten und der schnellere Informationsaustausch erhöhen die Ergebnisqualität und verringern den Stress. Das ist und wird noch viel mehr eine Win-Win-Situation für alle.
An welchen Projekten arbeiten Sie momentan konkret?
Bei Fraunhofer Italia haben wir eine lange Liste. Ein Auszug daraus: Eines unserer ganz wichtigen Themen ist der Aufbau unseres Anwenderzentrums ARENA als zentrale Plattform für digitale Technologieanwendungen, zum Beispiel mit Demonstratoren im Bereich der Baurobotik, Anwendungen mobiler Assistenten am Bau sowie verschiedene Applikationen von Artificial Reality oder Virtual Reality Technologien. Aber auch die Erweiterung von BIM mit KI-Technologien zur Verbesserung und Beschleunigung der Entscheidungsfindung und natürlich der Technologietransfer im Bereich BIM beschäftigen uns gerade intensiv.
Worin liegt die Erleichterung durch die Digitalisierung?
Es ist nicht die Digitalisierung selbst, die das Leben erleichtert, sondern es ist die Vielzahl an neuen Technologie-getriebenen Möglichkeiten. Dadurch wird ein enormes kreatives Potential in den Köpfen der Menschen freigesetzt: viele Ideen werden generiert, neue Nutzenpotentiale erschließen sich durch innovative Produkt- und Dienstleistungsangebote oder schlichtweg durch effizientere Leistungserbringung. Gerade KMU können hiervon profitieren: Sie behalten ihre Flexibilität bei, können aber durch Effizienzgewinne ihre Ressourcennachteile gegenüber größeren Betrieben weitgehend kompensieren.
Wo sehen Sie noch mögliche Herausforderungen?
Auch diese Liste ist lang. Sie beginnt bei der zügigen Schaffung notwendiger Infrastrukturen für bessere und kapillare Verfügbarkeit von Internet auch außerhalb von Ballungsräumen und reicht über die Standardisierung von technischen Schnittstellen bis hin zu dringender Klärung rechtlicher und weshalb ethischer Fragestellungen.
Sehen Sie eine große Bereitschaft bei den politischen Entscheidungsträgern, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen?
Die Bereitschaft besteht, aber es fehlen mitunter Orientierung, Maßnahmen-Priorisierung und Entschlossenheit bei der Umsetzung. Es bedarf beherzter Entscheidungen und massiver Investitionen, damit wir nicht den Anschluss vollends verlieren!
Was wird der Nutzen für die Gesellschaft und für die Unternehmen sein?
Die gesellschaftlichen Herausforderungen der kommenden Jahre sind gigantisch und reichen von der Bewältigung des Klimawandels bis hin zu sozialen und demographischen Fragestellungen. Zwar sind uns USA und China in Sachen KI und Digitalisierung im Allgemeinen voraus, doch wir können in Europa eine führende Rolle einnehmen, wenn es darum geht, diese Technologien zum Wohle der Gesellschaft einzusetzen. Denken Sie nur an all die Möglichkeiten, die digitale Technologien und insbesondere KI bieten, wenn sie sinnvoll für den Schutz unserer Umwelt eingesetzt werden. Oder im Bereich des Gesundheitswesens oder der Pflege! Ganz zu schweigen von der Bewältigung von Problemstellungen, die sich durch die massiv fortschreitende Urbanisierung ergeben. Jede Menge Aufgaben und jede Menge Innovationspotenzial!
Für die Unternehmen stellt sich erst gar nicht die Frage nach dem Nutzen. Eine erfolgreiche digitale Transformation ist für den Großteil der Unternehmen in Zukunft wettbewerbsentscheidend.
Wird es durch die Digitalisierung nie wieder einen Fachkräftemangel geben, weil einfach viel weniger Fachkräfte benötigt werden?
Im Moment sowie wohl auch in den kommenden Jahren wird es eher umgekehrt sein: Wir werden viel mehr Fachkräfte benötigen. Natürlich fallen sukzessive bestimmte, meist einfache Arbeiten weg, doch es entstehen laufend neue Jobs. Etwa 38 Prozent der in den kommenden zehn bis zwölf Jahren angetretenen Jobs sind heute noch gar nicht erfunden. Es gibt also jede Menge Arbeit.
Wie soll die Digitalisierung im Bildungsbereich verankert werden?
Die Digitalisierung muss zum festen Bestandteil der Aus- und Weiterbildung werden. Die besondere Herausforderung liegt dabei in der extrem kurzen Halbwertszeit des Wissens. Hier müssen Forschung und Lehre noch stärker integriert, Lehrende aller Stufen laufend weitergebildet und digitale Technologien zur Wissensvermittlung eingesetzt werden.
Welche Unterrichtsinhalte werden bald den Status von Latein haben? Nice to know, aber eigentlich ist es eine tote Sprache.
Naja, da mag man geteilter Ansicht sein. Natürlich wird die Digitalisierung als weitere Kulturtechnik massiv Einzug in die künftigen Lehr- und Ausbildungspläne halten. Das ist wichtig und dringend. Ich denke aber, dass auch die meisten sogenannten traditionellen Unterrichtsinhalte ihre Daseinsberechtigung behalten werden, denn sie sind es ja, die einen wichtigen Bestandteil unserer Kultur und unseres gesellschaftlichen Selbstverständnisses bilden. Die digitalen Technologien können hier wohl nutzbringend eingesetzt werden, um deren Vermittlung attraktiver und effizienter zu gestalten.
Kann mit der Digitalisierung schon beispielsweise im Volksschulbereich begonnen werden?
Ich habe gerade die Ergebnisse eines Interreg-Forschungsprojekts von der Firma A21 Digital mit Sitz in Innsbruck in Zusammenarbeit mit der Universität Bozen und Verona vorgestellt, bei dem wir über 70 Expertinnen und Experten befragt haben und daraus 80 Handlungsempfehlungen für die digitale Transformation unserer Alpen-Region abgeleitet haben. Hier kam die eindeutige Empfehlung, Kinder bereits ab der vierten Schulstufe mit digitalen Medien vertraut zu machen. Denn in Berührung kommen sie damit ohnehin schon in sehr frühen Jahren, aber wir sollten sie zum bewussten Umgang damit anleiten.
Die nächste Generation wird, wenn es sich die jetzige Generation traut, digital aufwachsen. Wie soll die Fortbildung für heute 40 oder 50 Jährige aussehen?
Ich betreue viele Unternehmen auf ihrem Weg in die digitale Transformation. Dabei bin ich immer wieder erstaunt, wie aufgeschlossen sich auch die ältere Generation der Digitalisierung gegenüber verhält. Das ist natürlich nur eine subjektive Einschätzung, keineswegs wissenschaftlich untermauert. Aber die Aufgeschlossenheit gegenüber den neuen Technologien ist schon einmal eine wichtige Voraussetzung. In der vorher zitierten Studie empfahlen die befragten Experten übrigens das Reverse Monitoring, also das umgekehrte Lernen zwischen der Generation der Digital Natives und den älteren Generationen. Wobei das natürlich keine Einbahnstraße ist, sondern auf diesem Weg können beide voneinander lernen.
Wie digital sind Sie?
Digitale Technologie beschäftigt mich natürlich beruflich sehr intensiv. Und sie erleichtert auch viele Dinge des alltäglichen Lebens. Ich gebe zu, Smartphone und Co sind für mich nicht mehr wegzudenken.
Brauchen Sie manchmal auch digital Detoxing?
Na, ich lebe in Südtirol, einem der schönsten Plätze der Welt. Wenn ich am Wochenende zum Schifahren oder Wandern gehe oder mit Freunden eine Runde Karten spiele, dann wirkt das schon sehr detoxing.